1140 Baumgartner Höhe 1
1904-1906
Bis ins 19. Jahrhundert galten Geisteskrankheiten als unheilbar. „Gemeingefährliche Irre“ wurden eingesperrt, während die leichteren Fälle in den Armenasylen untergebracht wurden. Ende des 19. Jahrhunderts führten wissenschaftliche Erkenntnisse zu neuen Behandlungsmethoden psychisch Erkrankter und erforderten neue bauliche Maßnahmen.
1901 beschloss daher das Land Niederösterreich, in Wien eine „Heil- und Pflegeanstalt für Geistes- und Nervenkranke“ zu errichten, die den neuesten Forschungsergebnissen entsprechen und rund 2500 Patienten aufnehmen sollte. Der geeignete Bauplatz wurde am Rand der Stadt im heutigen 14. Bezirk gefunden und der Landesbaubeamte Carlo von Boog erstellte ein Bebauungskonzept im modernen Pavillonsystem mit 61 Gebäuden, die zu beiden Seiten der Hauptachse mit dem Pförtnerhaus, dem Direktionsgebäude, der Küche und der Kirche angeordnet sind. Als die Anstalt „Am Steinhof“ im Jahr 1907 eröffnet wurde, war sie die größte der Welt und die modernste Europas.
1902 wurde für die Kirche ein geladener Wettbewerb ausgeschrieben und Otto Wagner, einer der drei Teilnehmer legte einen Entwurf vor, der im niederösterreichischen Landtag auf heftige Ablehnung stieß und stürmische Debatten auslöste. Wagner entwarf zwar einen durchwegs konventionellen Zentralbau mit einer hohen Tambourkuppel, aber der mit weißen Marmorplatten verkleidete Baukörper und die dominante vergoldete Kuppel erinnerte die Abgeordneten an ein „Grabmal eines indischen Maharadschas“ und der moderne Jugendstildekor und die neuartig gestalteten Figuren wurde als „jüdische Kunst“ oder als „närrischer assyrisch-babylonischer Stil“ abqualifiziert. Leopold Steiner, Referent des Landesausschusses und späterer Landeshauptmann, verteidigte Wagners neuartigen Entwurf hingegen vehement und sein engagierter Einsatz führte schließlich zur Ausführung.
Otto Wagner hatte in der Akademie der bildenden Künste eine fundierte Ausbildung in den Stilen der Vergangenheit erhalten und war als Architekt zunächst durchaus der historistischen Bauweise verpflichtet. Nach seiner Berufung an die Akademie der bildenden Künste vollzog er jedoch in seiner 1895 erschienenen Schrift „Moderne Architektur“ eine deutliche Abkehr von der retrospektiven Gestaltungsweise des Historismus. Euphorisch den Fortschritt und das moderne Leben begrüßend, plädierte er für „Neuformen“ in der Architektur, die den Bedürfnissen der modernen Menschen nach sachlicher Funktionalität, nach Nützlichkeit, Bequemlichkeit und Ökonomie entsprechen müssten. Diese Neuformen würden sich aus einer zweckgerichteten Konstruktion und durch die Anwendung neuester Techniken und Materialen ergeben und sich schließlich zur „Kunstform“ entwickeln.
In diesem Sinn betont Wagner beim Entwurf für die Steinhofkirche, dass „die Hauptdisposition des Bauwerkes völlig aus dem Zweck hervorgegangen“ sei und erläutert ausführlich die funktionalen und hygienischen Anforderungen, die es seiner Meinung nach bei einer Anstaltskirche zu berücksichtigen galt. So beschreibt er etwa detailliert die Maßnahmen, die er zur „möglichsten Bakterienfreiheit“, zur leichten Reinigung der Wände, Böden und Kirchenbänke sowie einer guten Raumakustik getroffen habe. Er verweist auf wettergeschützte Kircheneingänge, die Installierung einer Heizung und von Ventilatoren sowie die Einrichtung von Rettungszimmern, Ruheräumen und Toiletten und betont nicht zuletzt die Kostengünstigkeit des geplanten Gebäudes. Bemerkenswert ist, dass Wagner die sakrale Funktion dieses Bauwerks hingegen mit keinem Wort erwähnt.
Gehen „Utilität und Realismus“ voran, so liegt es laut Wagner sodann am „Baukünstler“, das Geschaffene zu „idealisieren“. Bei der Steinhofkirche konkretisierte er seine Überlegungen, indem er den zunächst nüchtern beschriebenen Nutzbau durch die prachtvolle Außen- und Innengestaltung mit kostbaren Materialien, exklusiven Verarbeitungsweisen und subtil eingesetztem Dekor exemplarisch zum repräsentativen Monumentalbau erhöhte.
Explizit auf Fernwirkung angelegt und unter Einbeziehung der umgebenden Bepflanzung schuf Wagner ein ästhetisch eindrucksvolles, künstlerisch anspruchsvolles secessionistisches Gesamtkunstwerk. Der Kirchenbau selbst stieß in der zeitgenössischen Fachwelt allerdings auf wenig Zustimmung. Man warf Wagner vor, dass er zu Gunsten der Zweckgerichtetheit, aber auch einer zu modernen Ästhetisierung allzu sehr auf religiös-mystische Stimmungsgehalte verzichtet und daher eine „Art Kirche für unkirchlich Gesinnte“ (Hans Tietze) geschaffen habe.