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Aktuelle Seite: Der Wiener Kirchenbau im Historismus und der Frühen Moderne – ein Überblick

Der Wiener Kirchenbau im Historismus und der Frühen Moderne – ein Überblick

Das Stadtbild Wiens, insbesondere der Kirchenbau, ist geprägt durch Gebäude des Historismus. Otto Wagner hat diese Gebäude der „lendenlahmen Eklektiker“ als traditionellen Starrsinn oder Kunstagonie kritisiert. Auch in den folgenden Jahrzehnten wurde diese Epoche zwar etwas weniger grob, aber im gleichen Sinn als Degenerationsprozess im künstlerischen Schaffen verurteilt - eine Einschätzung, die vielfach auch heute noch geteilt wird.

Aber ist es tatsächlich vorstellbar, dass praktisch ein ganzes Jahrhundert keine kreativen und innovativen Architekten hervorgebracht hat? Es muss also einen Grund geben, weshalb im 19. Jhd. bei der Gestaltung der Gebäude auf Stile der Vergangenheit zurückgegriffen wurde.

Fortschritt und Rückgriff

Die industrielle Revolution hat im 19. Jahrhundert einen bislang nie gekannten Umbruch in der politischen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebenswelt der Menschen mit sich gebracht. Breite Schichten der Bevölkerung reagierten mit Verunsicherung oder Orientierungslosigkeit und beklagten die Veränderungen auch als Verlust kultureller und ethischer Werte. Viele Künstler erlebten diese Zeit gleichsam als Sprachverlust. „Gebt uns Werte und wir werden einen eigenen Stil haben!“ rief ein Architekt den Kritikern der „Stillosigkeit“ entgegen.

Gleichzeitig begann die wissenschaftliche Erforschung der Vergangenheit, wobei der Fokus nicht nur auf historischen Ereignissen lag, sondern auch gesellschaftliche und kulturelle Aspekte auf zunehmendes Interesse stießen. Die Forschungen führten zu der Erkenntnis, dass in den einzelnen - oftmals verklärten - Epochen jeweils bestimmte Ideale oder Wertevorstellungen vorherrschten, und dass ein Zusammenhang mit der jeweiligen architektonischen Gestaltungsweise besteht.

Den Architekten verschafften diese neuen Erkenntnisse einen Ausweg aus dem schöpferischen Dilemma. Denn mit der Verbindung von Architektur und ideellen Qualitäten konnten jene Ideale und Werte, die in der Gegenwart verloren schienen, zumindest metaphorisch wiederhergestellt und in architektonisch schlüssige Lösungen übersetzt werden.

Beispielsweise gelangte beim Bau des Parlaments die Wertschätzung gegenüber der demokratischen Staatsform der griechischen Antike zum Ausdruck. (Weshalb Kaiser Franz Josef damit nachvollziehbar wenig Freude hatte.) Die Universität oder auch Schulen nahmen auf die humanistische Bildung in der Renaissance Bezug. Bei Bankgebäuden wurde assoziativ an den Reichtum der Renaissancefürsten angeknüpft - während man Theaterbauten mit barocker Sinnes- und Daseinsfreude in Zusammenhang brachte. Der Kirchenbau wurde vor allem mit Gläubigkeit und Gottvertrauen assoziiert - weshalb hier das Mittelalter bzw. insbesondere die Gotik zu Ehren kam.

Zusätzliche Assoziationen, wie etwa Geborgenheit, Würde oder Repräsentation erleichterten einerseits die Stilwahl, wenn es um neue, vorbildlose Bauaufgaben wie z.B. Bahnhofsbauten ging. Andererseits konnten die Stile auf Grund der abstrakten Assoziationen und mehrschichtigen Aussagekraft sehr subjektiv eingesetzt werden. Die Folge war, dass für ein- und dieselbe Bauaufgabe durchaus unterschiedlichen Stile aufgegriffen werden konnten – was schließlich in einen Eklektizismus, also zu Stilmischungen führte, die manchen als Kitsch, anderen wiederum als Vorläufer einer spielerischen Postmoderne erscheinen mögen.

Experimente im Kirchenbau der ersten Jahrzehnte

In der ersten Hälfte des 19. Jhds. wurden nur wenige Kirchen errichtet. Nach der exzessiven Bautätigkeit in der Barockepoche bestand kaum ein Bedarf an Kirchenneubauten. Außerdem fehlte es nach den napoleonischen Kriegen auch an finanziellen Mitteln. Wenn ein Neubau erforderlich war, bevorzugte man zunächst als Gegensatz zum Barock die schlichten, klaren Formulierungen antiker Bauten. Diese kurze Epoche des „Klassizismus“ begann bereits Ende des 18. Jahrhunderts. Von der Amtskirche apodiktisch als „heidnischer Stil“ abgelehnt, konnte er sich jedoch im Kirchenbau nicht durchsetzen.

Nicht zuletzt Johann Wolfgang Goethes euphorische Beschreibung des Straßburger Münsters als „wahre deutsche Baukunst“ (1773) bewirkte im gesamten deutschen Sprachraum eine national motivierte, geradezu enthusiastische Begeisterung für die zuvor wenig geschätzte gotische Bauweise, aus der die Neogotik schließlich als „idealer“ Stil für den Kirchenneubau hervorging.

An eine konkrete Umsetzung war allerding nicht zu denken, denn abgesehen von den kaum erschwinglichen Baukosten, die mit den für die Gotik charakteristischen Steinmetzarbeiten verbunden waren, fehlten auch die Kenntnisse der gotischen Konstruktionsprinzipien. So behalf man sich zunächst mit der Errichtung einfacher Saalkirchen mit nach freiem Ermessen eingesetzten Stilzitaten der Romanik und Renaissance. (Abb. 1)

Bauboom und Stilbildung

In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts lösten der Bau der Ringstraße, zahlreiche Fabriksgründungen und der wirtschaftliche Aufschwung insgesamt einen starken Zuzug von Arbeit suchenden Menschen aus, was einen rasanten Bevölkerungsanstieg bewirkte. So verzeichnete Wien 1850 rund 500.000 Einwohner - davon waren 44% Migranten(!) - 1900 war die Bevölkerungszahl bereits auf ca. 2 Millionen angewachsen. Für die seelsorgliche Betreuung wurden so viele Kirchen wie noch in keinem Jahrhundert davor benötigt – und sie mussten daher schnell und billig errichtet werden.

Als gleichsam ungeschriebenes Gesetz galt, dass öffentliche Gebäude und insbesondere auch Kirchen aus Gründen der Monumentalität aus Steinmaterial zu errichten sind. Zu dieser kostspieligen, eine lange Bauzeit erforderlichen und schon allein deshalb nicht mehr zeitgemäßen Bauweise fanden die historistischen Architekten eine pragmatische und ökonomische Alternative. Die Vorbilder im Norden Deutschlands erforschend, kreierten sie neue Bauwerke aus Sichtziegel, einer Bauart, die in Österreich als billigste Herstellungsweise bislang allein im Nutzbau denkbar war.

Damit zeigten sich die Architekten auch auf der Höhe der Zeit, da sie das Baumaterial am Außenbau sichtbar machten und damit jenen Forderungen nach „Materialgerechtigkeit“ nachkamen, die in der neuesten Architekturdebatte erhoben wurden. Bemerkenswert ist, dass demgegenüber Otto Wagner, der den Historismus gerne als „Lüge“ bezeichnete und das Postulat der „Wahrheit in der Baukunst“ betonte, die mit billigem Ziegelmaterial hergestellten Gebäude häufig mit Marmorplatten verkleidete, wie dies etwa bei der Steinhofkirche oder der Postsparkassa der Fall war.

Keinesfalls wurden von den Historisten jedoch die mittelalterlichen Kirchen nachgebaut oder kopiert, sondern es wurden kanonisierte Grundriss- und Bauformen vereinfacht übernommen und die Stilzugehörigkeit sowohl am Außenbau als auch bei der Innenraumgestaltung durch bestimmte Stilzitate erkennbar gemacht. Gotische Kirchen erhielten Spitzbögen und, abhängig von den verfügbaren Finanzmitteln akzentuierende Elemente wie etwa Fialen und Maßwerkfenster aus Sandstein. Vergleichbares Merkmal des romanischen Stils war neben dem Rundbogen vor allem der Einsatz von Zierfriesen, die allerdings auch aus billigem Ziegelmaterial hergestellt werden konnten.

Die Votivkirche im 9. Bezirk, von Heinrich Ferstel als Nachbau einer hochgotischen Kathedrale 1856-79 errichtet, stellt insofern eine ebenso bedeutende wie singuläre Ausnahme dar, indem diese Kirche tatsächlich aus Stein errichtet wurde und damit nicht nur ästhetisch dem Ideal der Hochgotik nacheiferte, sondern auch in der Materialbeschaffenheit Monumentalität zum Ausdruck brachte. Letzteres ist deshalb nicht ohne Belang, da diese Kirche ja explizit als Dank dafür errichtet wurde, dass Kaiser Franz Josef im Jahr 1853 nur knapp einem tödlichen Attentat entging. (Abb. 2)

Backsteinkirchen

Große Verdienste für die Akzeptanz der in Wien ungewohnten Backsteinkirchen hat sich der Architekt Friedrich Schmidt erworben. Schmidt kam aus Deutschland und ist heute vor allem als Erbauer des Wiener Rathauses bekannt. Er hat in Köln an der Restaurierung und Fertigstellung des Kölner Domes mitgearbeitet und galt als der Gotikspezialist schlechthin. Als angesehener Lehrer an der Akademie der bildenden Künste in Wien hat er eine Reihe von jungen Architekten geprägt, darüber hinaus hat er in Wien unter anderem auch sechs neogotische Kirchen erbaut. (Abb. 3)

Die Backsteinkirchen erlaubten erstaunlich variable Gestaltungsweisen. Generell den Topos einer basilikalen Anlage aufgreifend, entstanden Kirchen mit Zweiturmfassaden, insbesondere aber Kirchen mit einem Turm, der aus städtebaulichen oder ästhetischen Gründen dem Gebäude an den unterschiedlichsten Stellen angefügt werden konnte. Es entstanden Kirchen mit einem Vierungsturm, verschieden ausgebildeten Langhauswänden oder reich gegliederte Chorseiten. Die spektakulärste neogotische Backsteinkirche schuf Friedrich Schmidt jedoch 1868 mit dem überkuppelten Zentralbau Maria vom Siege. Denn die Kuppelkonstruktion, die charakteristisch für die Renaissance und das Barock ist, dem gotischen Formprinzipien anzupassen war ein gewagtes und vorbildloses Unterfangen. Es blieb auch tatsächlich ein singuläres Experiment. (Abb. 4)

Auch quantitativ lässt sich die Bautätigkeit dieser Ära nicht mit jener zu Beginn des 19. Jahrhunderts vergleichen. In den ersten Jahrzehnten wurden rund 18 mehr oder weniger große Kirchen errichtet. Als ab den 1880er Jahren der Bedarf an Kircheneubauten sprunghaft anstieg, entstanden bis zum Ersten Weltkrieg hingegen rund 30 neue Pfarrkirchen. Daneben wurde zudem eine Reihe von Ordens- oder Spitalskirchen und Kapellen erbaut.

Auf Grund dieses Baubooms wurden einige Schüler Friedrich Schmidts ebenfalls zu viel beschäftigten Kirchenbauarchitekten, denen die Bauten ihres Lehrers aber unverkennbar als Vorbild dienten. Immer stärker setzte sich jedoch nun die Erkenntnis durch, dass der Rückgriff auf den gotischen Stil kaum noch Variationsmöglichkeiten bot - und sich überlebt hatte.

Die Stilwahl

Die das ganze Jahrhundert schwelende Debatte um den „richtigen“ Kirchenbau erhielt daher neue Brisanz, als sich Ende des 19. Jahrhunderts vermehrt Theoretiker zu Wort meldeten, die nach der jahrelangen Fokussierung auf den gotischen Stil nun auch in anderen Stilen Qualitäten für den Kirchenbau erkannten. Das Für und Wider wurden mit bemerkenswerter Energie und sichtbarer Freude am theoretischen Diskurs in langen, zum Teil heftigen und polemischen Debatten ausgetragen.

Neben der Gotik wurde die Romanik zwar als mittelalterlicher Stil mit den gleichen bedeutsamen Konnotationen wie Frömmigkeit, Mystik etc. im Kirchenbau akzeptiert, allerdings als gleichsam embryonale Vorstufe der Gotik ästhetisch deutlich weniger geschätzt. Zwar aus „rauher, ungelenker“, immerhin aber „deutscher Hand“ entstanden, wurde die Neoromanik daher vorerst vor allem bei Kirchen „zweiten Ranges“, d.h. bei Kloster- oder Spitalskirchen gewählt. Nun aber wurde der romanischen Bauweise auch der Ausdruck einer „sittlichen Urkraft“ als neue Qualität zugeschrieben, mit der man sich gerne identifizierte. Aber auch die Feststellung, dass die einfache, zweckmäßige Bauweise der modernen „razionellen“ Zeit weit eher kompatibel sei, beförderte die Akzeptanz der Neoromanik, die, insbesondere nach der Jahrhundertwende, auch beim Bau von Pfarrkirchen eine größere Rolle zu spielen begann. Letztlich erfolgte diese Neuorientierung allerdings vor allem aus ökonomischen Überlegungen. Denn ab dem Jahr 1899 wurden die bislang gewährten Darlehenszuschüsse der Gemeinde Wien für Kirchenneubauten gestrichen, und eine kostengünstigere Herstellung der Neubauten wurde daher zwingend. Einerseits konnten romanische Sichtziegelbauten an sich schon schlichter und somit billiger hergestellt werden als neogotische Bauten. Darüber hinaus erwies es sich als Vorteil, dass die Romanik niemals die gleiche ideelle Überhöhung wie die Gotik erfahren hatte. So konnten neoromanische Kirchen sogar in der billigsten Herstellungsweise als Putzbau errichtet werden, der eigentlich im Monumentalbau verpönte war.

Einigen Architekten fiel es allerdings schwer, sich mit den neuen Tendenzen abzufinden. So hat beispielsweise Gustav Neumann die Klosteranlage in Wien 3., Landstraßer Hauptstraße als Putzbau errichtet, aber der Fassade der Herz-Jesu-Kirche mit Kunststeinplatten den Anschein eines Steinbaus verliehen – eine nobilitierende Maßnahme, die Otto Wagner wenig später als seine Erfindung pries.

Eine Stilwahl, die auf Grund mehr oder weniger vielfältiger Assoziationen erfolgte, blieb zwangsläufig subjektiv und variabel. So wählte Viktor Luntz für die Kaiser-Franz-Josefs-Kirche in Wien 2., die zum 50-jährigen Regierungsjubiläum des Kaisers errichtet wurde (Abb. 6), zwar den neoromanischen Stil, aber selbstredend wurde die Kirche keineswegs zweitrangig eingestuft bzw. erfolgte die Stilwahl aus ökonomischen Gründen. Vielmehr stellt dieser monumentale Bau neben der Votivkirche die einzige Kirche des 19. Jahrhunderts dar, die aus teurem Steinmaterial errichtet wurde. In der Öffentlichkeit enthusiastisch zum „Denkmaldom“ erhöht, hat der Architekt die mit der Romanik verbundenen Assoziationen wie „Dauerhaftigkeit“ und „Mächtigkeit“ aufgegriffen, um vor dem Hintergrund des zu erodieren beginnenden Vielvölkerstaats nachdrücklich den Fortbestand des Kaisertums zu beschwören. Die übrigen Wettbewerbsentwürfe für diesen Kirchenbau zeigten darüber hinaus, dass die Verherrlichung des Hauses Habsburg offenbar in jedem Stil erfolgen konnte und die entsprechenden Assoziationen auch in der Neogotik oder Neorenaissance zu finden waren. Für diesen Denkmaldom wurde sogar der im Kirchenbau des 19. Jahrhunderts verpönte, weil zu sinnesfreudige Barock als „Habsburger Stil“ passend gefunden.

Die Problematik der Renaissance als Kirchenbaustil sah man hingegen darin, dass diese Bauweise mit der „heidnischen“ Antike verbunden war. Trotzdem ist in Wien eine Kirche zu finden, die durch Rundbogenarkaden und Gliederungen mit Rahmenfeldern auf den Renaissancestil verweist. (Abb. 7) Allerdings greift der Architekt Alexander Wielemans, ein Schüler von Friedrich Schmidt, den von seinem Lehrer im neogotischen Kirchenbau vorformulierten basilikalen Topos auf und verweist nur oberflächlich, d.h. mit ausgewählten Zitaten auf die andere Stilzugehörigkeit - eine Methode, die eine schnelle und kostengünstige Planung ermöglichte und auch im neoromanischen Kirchenbau üblich war. (Abb. 8)

Erst Ende des Jahrhunderts wurde schließlich auch der Barockstil neu bewertet. Nun fand man in ihm den Ausdruck des „österreichischen Wesens“ und insbesondere im Profanbau erlangte er als österreichscher Nationalstil breite Zustimmung. Im Kirchenbau stieß der Neobarock allerdings weiterhin auf Grund der Assoziation der Barockepoche mit einer überwiegend „unchristlichen“ diesseitsorientierten Lebensweise auf breite Ablehnung.

Aber auch in diesem Stil findet sich eine singuläre Realisation. Stefan Esders, ein reicher Fabrikant, stiftete die Kaasgrabenkirche im 19. Bezirk und zeigt damit ostentativ eine folgenreiche Facette des gesellschaftlichen Umbruchs auf. Mit der Stiftung einer Kirche konnte nun ein Fabrikant die Rolle übernehmen, die in der Vergangenheit allein dem Herrscherhaus oder dem Adel vorbehalten war. Die Assoziationen zum Barock aufgreifend und die Attribute „Macht“ und „Reichtum“ gekonnt in Szene setzend, haben die Architekten dem gesellschaftlichen Aufstieg des bürgerlichen Fabrikanten ein mehr als bildhaftes Denkmal gesetzt.

Malerische Architektur

Das Leben in der Großstadt mit ihrer Hektik, den engen Wohnverhältnissen und einem ungemein hohen Geräuschpegel ließ die Sehnsucht nach der stillen Natur und nach ländlicher Idylle entstehen. Und wieder fanden die Architekten einen Weg, diese Empfindungen bzw. Ideale gestalterisch umzusetzen. Architektur in der Zusammenschau mit Natur wurde ästhetisch als malerisch erlebt, weshalb man sich auch im Kirchenbau um eine „natürliche“ Komposition der Baukörper und eine insgesamt malerische, pittoreske Gestaltungsweise bemühte. Geschätzt wurden asymmetrische Kompositionen, vielfältige Gliederungen der Baukörper, eine Vielzahl an Türmen und Türmchen sowie spannungsvolle Dachlandschaften und Chorseiten (Abb. 10, siehe auch Abb. 6)

Die Frühe Moderne

Alle Überlegungen der historistischen Architekten bezüglich der richtigen Stilwahl im Kirchenbau traten in den Hintergrund, als der Architekt Otto Wagner mit seiner Schrift „Moderne Architektur“ 1896 an die Öffentlichkeit trat. Selbstbewusst verurteilte er die historistische Bauweise - die er bislang bei seinen Bauten selbst praktiziert hatte – nun als unzeitgemäß und forderte in der Baukunst eine „Neugeburt“, eine „Naissance“, die durch Funktionalität und Zweckmäßigkeit den Bedürfnissen der modernen Menschen gerecht werden solle. Als er für die „Irrenanstalt“ am Steinhof die Anstaltskirche erbaute (Abb. 11), legte er tatsächlich größten Wert auf Funktionalität hinsichtlich Hygiene, Optik und Akkustik, wie sie insbesondere bei einer Kirche für psychisch Erkrankte sinnvoll erschien. Bei der Grundkonzeption des Gebäudes griff er allerdings das traditionelle Schema einer Kreuzkuppelkirche auf, und bei der Außen- sowie Innenausstattung fragten sich schon seine Zeitgenossen, wie diese mit Wagners Forderung nach „Zweckmäßigkeit“ zu vereinbaren sei, denn er versah die Kirche überaus reichlich mit Skulpturen und Dekor. Neuartig war jedoch, dass er nicht auf Motive vergangener Stile zurückgriff, sondern sich des Formenepertoires des Wiener Secessionismus bediente – und damit die viel beachtete, „einzigartige Jugendstilkirche Wiens“ schuf.

Mit Jugendstilmotiven hat Max Hegele auch die Kirche am Zentralfriedhof in die Reihe moderner Kirchenbauten gestellt (Abb. 12), wenngleich auch er mit einer barocken Grundrisskonzeption auf historische Vorbilder zurückgriff.

Im Kreis der konservativen Architekten, bei der Amtskirche und nicht zuletzt beim Thronfolger Franz Ferdinand stießen diese neuartigen Kirchenbauten allerdings auf so breite und strikte Ablehnung, dass sie in Wien keine Nachfolge fanden. Die meisten, der Moderne gegenüber aufgeschlossenen Architektenkollegen Wagners zogen es daher vor, sich erst gar nicht mit dem Kirchenbau zu beschäftigen. Nur wenige - vor allem junge - Wagnerschüler reichten bei Wettbewerben Entwürfe ein, wohl wissend, dass diese bloß Fingerübungen bleiben würden. Allerdings wurden in der Zeit der „Frühen Moderne“ nur mehr wenige Kirchen errichtet, und der Ausbruch des Ersten Weltkriegs beendete die kurze Ära des Jugendstils abrupt.

Auf generelle Missbilligung stieß auch die von dem Wagnerschüler Josef Plecnik errichtete Hl. Geistkirche (Abb. 13) Plecnik verfolgte jedoch ein völlig anderes Konzept als sein Lehrer. Durch die Verwendung einfacher Materialein aus dem Industriebau stellte er sich bewusst auf die ärmlichen Lebensverhältnisse im Arbeiterbezirk Ottakring ein und rückte zugleich das mystische Erleben der Liturgie als Gemeinschaftsfeier in den Vordergrund. Erstmals in Wien das kostengünstige Material Beton - zum Teil sogar unverputzt - für einen Kirchenbau verarbeitend, war das schlichte Gebäude im Zusammenhang mit dem neuartigen Konzept eines Gemeinschaftsraums für den Kirchenbau nach dem Ersten Weltkrieg anders als die „Jugendstilkirchen“ tatsächlich zukunftsweisend.

Modernität im Historismus

Otto Wagners provokantes Auftreten als „Erfinder“ der modernen Architektur veranlasste die historistischen Architekten ihrerseits, eine Definition der „Moderne“ vorzunehmen. Nach ausführlichen und nicht immer stringenten Diskussionen kam man zu dem zweifellos beruhigenden Schluss, dass die zeitgenössischen historistischen Architekten durchwegs im modernen Sinn tätig seien. Errichteten sie etwa nicht funktionale Gebäude, die den zeitgemäßen Bedürfnissen entsprachen? Verwendeten sie nicht auch die modernsten Baumaterialien und nutzten die neuesten technischen Innovationen, wie Wagner das von sich behauptete?

Ihnen war allerdings bewusst, dass die Amtskirche – massiv vom Thronfolger Franz Ferdinand unterstützt - gravierende Neuformulierungen im Kirchenbau von Vorhinein nicht aufkommen lassen würde. Weder sahen die Kleriker die Notwendigkeit, Änderungen in der Liturgie vorzunehmen, durch die neue Konzeptionen erforderlich geworden wären, noch ließ ihr ästhetisches und ideologisches Beharren auf die mittelalterliche Stilwahl neue Gestaltungmöglichkeiten zu.

Die Architekten konnten daher nur im Rahmen des traditionellen Kirchenbaus – und somit im wahrsten Sinn des Wortes „hinter der Fassade“ - neuen, modernen Anforderungen gerecht werden. So wurde etwa bei den dreischiffigen Kirchen das traditionelle Mittelschiff deutlich verbreitert, um den Gläubigen eine bessere Sicht zum Altar zu gewährleisten. Die fast durchwegs allein wegen der malerischen Außenerscheinung ausgebildeten Chorumgänge wurden zum Innenraum hin abgemauert und der liturgisch traditionell gewichtige Bauteil erhielt nun den praktischen Zweck von Abstellräumen. (Abb.14) Derselben Logik folgend, wurden den malerischen Effekt bereichernde Kapellenanbauten fallweise zu Sakristeiräumen umfunktioniert. Bei der Karmeliterkirche in Wien 19. entpuppt sich sogar der mächtig ausgeprägte Rundchor, der durch eine gerade Altarwand vom Innenraum getrennt wurde, als schlichte Sakristei. (Abb. 15, heute als Werktagskapelle genutzt.)

Aus heutiger Sicht stellt sich die hier skizzierte Entwicklung, stellen sich die stilistische Vielfalt und die damit verbundenen Widersprüche, aber auch das Ringen um Legitimation und architekturtheoretische Fundierung als ein Gewimmel von Einzelmeinungen dar, die eine gültige Interpretation und systematische Einordnung der Architektur des Historismus beträchtlich erschweren. Geradezu hellseherisch hat der Architekt und Publizist Ferdinand Fellner von Feldegg bereits 1903 prophezeit:

„Die künftige Kunstgeschichtsschreibung wird, wenn sie bei der Schilderung unserer Zeit angelangt ist, vor einer recht schwierigen Aufgabe stehen. Es wird ihr gehen wie einem, der vor einer zankenden und gestikulierenden Menge steht und sagen soll, wer recht hat, wer unrecht hat. […] Welches Durcheinand! Oben und unten, rechts und links – alles scheint vertauscht“.