1110 Enkplatz
1907-1910
Simmering wurde bereits im 11. Jahrhundert urkundlich erwähnt und war ein kleiner, landwirtschaftlich geprägter Vorort von Wien, bis er sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem wichtigen Industrie- und Arbeiterwohnbezirk entwickelte und 1892 in die Stadt Wien eingemeindet wurde. Für die rasant steigende Bevölkerungszahl wurde die im Zentrum des Ortes gelegene barocke Pfarrkirche zu klein und bereits 1872 erfolgte die Gründung eines Kirchenbaufonds, um einen Neubau zu organisieren. Politische Querelen verzögerten allerdings das Projekt und erst 1905 wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben. Drei Projekte wurden eingereicht und die Simmeringer Bevölkerung zu einem Volksentscheid aufgerufen. Die Wahl fiel auf das Projekt von Hans Schneider, der bereits Jahre zuvor als Mitarbeiter von Heinrich Ferstel bei der Erbauung der Votivkirche im 9. Bezirk mitgewirkt hatte. Anlässlich des 60jährigen Regierungsjubiläums von Kaiser Franz Josef 1907 konnte endlich die feierliche Grundsteinlegung erfolgen.
Schneider entwarf einen mächtigen dreischiffigen basilikalen Längsbau mit einem Fassungsraum für 2800 Personen, einer Fassade mit zwei 57 Meter hohen Türmen und einem reich durchfensterten Chor mit einer halbrunden Apsis. Die Seitenschiffe münden in leicht verbreiterte Kapellen mit Apsiden, die durch polygonale Zwischenbauten vom Hauptchor getrennt sind. Anstelle eines Chorumgangs wird der hohe Chor von einem eingeschossigen Rechteckbau umfangen. Die starke Durchfensterung des Obergadens im Mittelschiff sowie zahlreiche große Fenster an den Seitenwänden bewirken einen hellen Innenraum. Er ist verputzt und „in vornehm-einfachen, ruhig abgeklärten Formen gehalten.“ (Festschrift 1975)
Schneider wählte – den Vorgaben der Amtskirche entsprechend - als Grundkonzept Formelemente des romanischen Stils, doch „finden freiere Formen Verwendung“ (WBIZ 1908). Dies zeigt sich nicht nur bei dem Rechteckbau am Chor, sondern auch bei der Gestaltung der Türme mit den Turmhelmen, sowie der freien Verarbeitung romanischer Formelemente im Innenraum.
Die Neusimmeringer Kirche zählt zu den ersten Stahlbetonbauten Wiens. Die „statisch äußerst interessante Eisenkonstruktion“ ist zum Teil verputzt, zum Teil mit Kunststeinplatten verkleidet und die Gebäudekanten sind mit Kunststeinwerkstücken akzentuiert.
Als Otto Wagner mit der „Modernen Architektur“ eine zeitgemäße Baukunst deklarierte, bewies die konservative Architektenschaft, dass sie – trotz des Rückgriffes auf Stile der Vergangenheit - um nichts weniger modern tätig war. (mehr hier) In diesem Sinne hat Schneider technische Innovation, Funktionalität, Kostenbewusstsein und die Bewahrung traditioneller ästhetischer Werte in seinem Projekt vereinigt. Er blieb der traditionellen Dreischiffigkeit treu, aber setzte das moderne Material Eisenbeton für eine – kostengünstige - Reduzierung der Mauer- bzw. Pfeilerstärke ein, und gleichzeitig auch, um das Mittelschiff auf 15 Meter zu verbreitern, um der funktionalen Anforderung nach einer besseren Sicht zum Altar nachzukommen. Mit der Verwendung von Kunststein, der optisch von Naturstein kaum zu unterscheiden ist, konnte Schneider die Baukosten erheblich senken, ohne das gewünschte Erscheinungsbild eines historischen Steinbaus zu beeinträchtigen.
Bemerkenswert ist die Anordnung der Sakristei und der Taufkapelle. Üblicherweise wurden diese Räume zu beiden Seiten des Chorhaupts angebaut und häufig durch einen Chorumgang verbunden, der ohne liturgischen Zweck allein der malerischen Bereicherung der Chorseite diente.
Schneider vermied zusätzliche Anbauten, und verlegte stattdessen die Sakristei bzw. Taufkapelle in einen erweiterten Chorumgang. Die Ausführung in Form eines Rechteckbaus unterstreicht den funktionalen Charakter der Räume und trägt gleichzeitig auf neuartige Weise zur malerischen Vielgliedrigkeit des Chorraums bei, die den ästhetischen Erwartungen der damaligen Betrachter entsprach.
Schneider schuf durch den Einsatz innovativer Materialien und die Bereitwilligkeit zu gestalterischen Anpassungen ein beeindruckendes Bauwerk, das sowohl historistische als auch moderne Elemente vereint. Mit diesem Kirchenbau setzte er einen markanten städtebaulichen Akzent in das Simmeringer Stadtbild, das von Industrieanlagen und Arbeiterwohnhäusern geprägt ist.